Gerichtsgutachten: Oft wird die Tendenz vorgegeben

09.09.2015 08:19
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THEMEN DER ZEIT
Gerichtsgutachten: Oft wird die Tendenz vorgegeben
Dtsch Arztebl 2014; 111(6): A-210 / B-180 / C-176
Jordan, Benedikt; Gresser, Ursula

Bei einer Befragung von Gutachtern gab etwa ein Viertel an, beim Gutachtenauftrag durch das Gericht eine Tendenz signalisiert bekommen zu haben.

Der Fall „Gustl Mollath“ hat deutschlandweit eine heftige Diskussion ausgelöst. Mollath wurde infolge eines psychiatrischen Gutachtens als „für die Allgemeinheit (. . .) gefährlich“ (1) eingestuft und sieben Jahre in einer psychiatrischen Klinik untergebracht (2). Im August 2013 wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens durch Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg veranlasst (3). Dieser und weitere Fälle führten in der Öffentlichkeit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begutachtungswesen. Ein besonders sensibler Punkt dabei ist die Frage, inwieweit Gutachten objektiv, unabhängig und neutral sind (4).
Um dieser Diskussion eine wissenschaftliche Grundlage zu geben, wurde im November 2013 eine Studie zur „Begutachtungsmedizin in Deutschland am Beispiel Bayern“ im Rahmen einer Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführt (5), deren Ergebnisse hier erstmals in Auszügen vorgestellt werden. Im Zuge der Studie wurden Fragebogen an 583 über das Internet ermittelte medizinische und psychologische Gutachter in Bayern versandt. 548 Briefe waren zustellbar; 252 Personen (161 Ärzte – darunter 55 Psychiater –, 49 Zahnmediziner und 42 Psychologen) beteiligten sich an der Umfrage. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 46,0 Prozent.
Von den 252 Antworten wurden nur diejenigen der 243 gutachterlich tätigen Sachverständigen in die nachfolgende Auswertung einbezogen. Von diesen nahmen 116 namentlich und 127 anonym an der Befragung teil.
Dass mehr als 50 Prozent ihrer Einnahmen aus Gutachtertätigkeit stammen, gaben 53 der 235 antwortenden Gutachter (22,6 Prozent) an (Tabelle 1).

Tabelle 1
„Wie viel Prozent Ihrer Einnahmen stammen aus Gutachtertätigkeiten?“
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Von den 243 Sachverständigen bejahten 223 die Frage „Machen Sie Sachverständigengutachten im Auftrag von Gerichten?“. Bei den nachfolgenden Fragen wurden nur diese 223 Gutachter einbezogen. Durchschnittlich teilten 42,1 Prozent (n = 93) mit, pro Jahr mehr als zwölf Gutachten zu machen, die von einem Gericht in Auftrag gegeben wurden. Bei den Zahnmedizinern gaben dies 8,3 Prozent (n = 4) an, bei den Psychiatern 82,4 Prozent (n = 42).
Im weiteren Verlauf wurde gefragt, ob Sachverständigen beim Gutachtenauftrag durch das Gericht „noch nie“, „in Einzelfällen“ oder „häufig“ eine Tendenz signalisiert wurde. 51 von 219 Gutachtern gaben an, bei einem von einem Gericht in Auftrag gegebenen Gutachten „in Einzelfällen“ eine Tendenz signalisiert bekommen zu haben. Dies entspricht einem durchschnittlichen Wert von 23,3 Prozent. Die Gruppen der Zahn- und Humanmediziner liegen mit 12,5 Prozent (n = 6) beziehungsweise 17,3 Prozent (n = 14) unter dem Durchschnitt.
Wirtschaftliche Abhängigkeit
Die Gruppe der Psychiater liegt mit 28,0 Prozent (n = 14) über, die Gruppe der Psychologen mit 42,5 Prozent (n = 17) deutlich über dem Durchschnitt. Insgesamt gaben 24,7 Prozent (n = 54) an, bei Gutachten, die von einem Gericht in Auftrag gegeben wurden, entweder in Einzelfällen oder häufig eine Tendenz signalisiert bekommen zu haben (Tabelle 2).

Tabelle 2
„Wurde Ihnen bei einem Gutachtenauftrag schon einmal eine Tendenz signalisiert?“
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Unter den Gutachtern, die bei gerichtlich in Auftrag gegebenen Gutachten in Einzelfällen oder häufig eine Tendenz signalisiert bekommen haben, gaben durchschnittlich 40,7 Prozent (n = 22) an, mehr als 50 Prozent ihrer Einnahmen aus gutachterlichen Tätigkeiten zu beziehen. Mit 61,1 Prozent (n = 11) ist dieser Wert bei psychologischen Gutachtern im Vergleich zu den anderen untersuchten Berufsgruppen am höchsten.
73 Gutachter teilten mit, aus dem Kollegenkreis gehört zu haben, dass in Einzelfällen oder häufig bei einem gerichtlichen Gutachtenauftrag schon einmal eine Tendenz genannt wurde. Dies entspricht einem durchschnittlichen Wert von 33,6 Prozent (Tabelle 3).

Tabelle 3
„Haben Sie aus dem Kollegenkreis schon einmal gehört, dass eine Tendenz genannt oder eine Vorgabe gegeben wurde?“
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Die hier publizierten Zahlen und Aussagen beruhen auf schriftlichen Äußerungen von Ärzten und Psychologen, die als Sachverständige für Privatpersonen, Versicherungen und Gerichte im Bundesland Bayern tätig sind. Es ist eine erste Auswertung umfangreicher Daten. Die Publikation der kompletten Auswertungsergebnisse erfolgt in Kürze.
Die hohe Rücklaufquote und die zahlreich ergänzten Anmerkungen zeigen, dass das Thema der Befragung hochaktuell ist. Die Ergebnisse geben Anstoß zur Diskussion, insbesondere bezüglich der Häufigkeit der Tendenzsignalisierung sowie der vergleichsweise hohen wirtschaftlichen Abhängigkeit vieler Gutachter von Gutachtenaufträgen.
Bei der Befragung gab nahezu jeder vierte gutachterlich tätige Sachverständige im medizinisch/psychologischen Bereich an, bei einem von einem Gericht in Auftrag gegebenen Gutachten in Einzelfällen oder häufig (wenige Nennungen) bei einem Gutachtenauftrag eine Tendenz signalisiert bekommen zu haben. Unter humanmedizinischen Gutachtern gab dies knapp jeder Fünfte, unter psychologischen Gutachtern fast jeder Zweite an.
Neutralität ist gefährdet
Grundsätzlich sollten Gutachter ihre Gutachten unbeeinflusst erstellen. Die Signalisierung einer Tendenz bei Auftragserteilung durch den Auftraggeber steht dem entgegen. Kommt eine wirtschaftliche Abhängigkeit des Sachverständigen von Gutachtenaufträgen dazu, wovon bei einem Anteil von mehr als 50 Prozent Gutachtenhonoraren an den Gesamteinnahmen auszugehen ist, ist die geforderte Neutralität gefährdet.
Der Gesetzgeber ist gefordert, für die Unabhängigkeit und Neutralität des Gutachterwesens Sorge zu tragen, damit das Vertrauen in das Gutachterwesen und in die Funktionsfähigkeit unseres Rechtssystems erhalten bleibt.
Benedikt Jordan
Prof. Dr. med. Ursula Gresser
Ludwig-Maximilians-Universität München

Gruß Bernd

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